6.

Bevor es losging, verschwand Julia noch einmal im Trailer und zog sich um. Helle Jeans, ein rotes Top und darüber ein weites grünes T-Shirt. Was sie auch tat, hier blieb nichts sauber, nicht einmal zehn Minuten.

Sie warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Simon hatte die Schilder, Werkzeug, einen Spaten und eine blaue Kühlbox auf den Truck geladen. Nun wartete er draußen auf sie.

Pepper hüpfte auf drei Beinen um Julia herum, als sie zum Truck kam. Er wollte unbedingt mit. Sie öffnete die Beifahrertür, da sprang er auf die Sitzbank und setzte sich brav. Julia kletterte hinein und merkte sofort, dass es keine gute Idee gewesen war, eine saubere Hose anzuziehen. Die beigefarbenen Vinylsitze waren mit feinem rötlich gelbem Staub überzogen und im Fußraum auf der Beifahrerseite kullerte Müll herum.

Als Simon den Motor startete, gab der Truck furchterregende Geräusche von sich. Die Keilriemen quietschten, das Getriebe rasselte und die Gänge knirschten, als er den Schaltknüppel in den ersten Gang drückte. Aber nachdem die Kiste sich erst einmal in Bewegung gesetzt hatte, wurde es besser. Simon drehte sofort das Radio laut auf, vermutlich damit Julia nicht auf die Idee kam, mit ihm reden zu wollen.

Ihr fiel auf, dass er schöne Hände hatte. Schmale braune Finger, die locker das Lenkrad umfassten. Diese Hände konnten kiloschwere Heuballen heben und zärtlich ein Kälbchen oder einen kleinen Hund streicheln.

Julia wandte den Blick nach vorn. Irgendwie werden wir die Zeit schon hinter uns bringen, dachte sie.

Sie fuhren die zwanzig Kilometer durch die endlos scheinende Beifußwüste und zogen eine dicke Staubwolke hinter sich her. Die Scheiben des Trucks ließen sich nicht mehr nach oben kurbeln und bald knirschte der feine Staub auch zwischen Julias Zähnen.

Simon fuhr schnell. Pepper rutschte auf dem glatten Sitz hin und her, nahm es jedoch gelassen. Er schien die Fahrweise seines Herrchens gewohnt zu sein, während es Julia langsam aber sicher übel wurde.

Plötzlich flitzte ein unvorsichtiges Kaninchen quer über die Schotterpiste und Simon wich ihm in letzter Sekunde aus. Dabei wurde Julia heftig gegen die Tür geschleudert, denn der Pick-up hatte keine Gurte, und sie konnte sich nur am Armaturenbrett festhalten.

»Fuck«, fluchte er und warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. »Alles o-kay?«

»Nichts passiert«, antwortete Julia mit einem tapferen Lächeln.

Von da an fuhr Simon langsamer.

In Eldora Valley hielten sie bei Sam’s, wo Simon den Pick-up auftankte, während Julia die Gelegenheit nutzte und die Toilette ansteuerte.

Als sie zurück in den Verkaufsraum kam, stand Simon vor dem Kühlregal, ein in Plastikfolie verpacktes Sandwich unter den Arm geklemmt und zwei giftgrüne Flaschen in der Hand. Er winkte Julia heran.

»Such dir was aus.«

»Ich habe kein Geld dabei.«

»D-d-das... also das geht schon in Ordnung. Deine Granny hat mir welches mitgegeben.«

Sie entschied sich für ein Sandwich mit Truthahnfleisch und Käse und eine große Flasche Wasser. Simon holte noch eine Packung Würstchen aus dem Regal, zahlte und packte draußen alles in die Kühlbox.

Sie verließen Eldora Valley auf der Landstraße nach Beowawe, bis sie zur Abfahrt vom Highway 80 gelangten. Simon stellte hin und wieder am Radio herum, um einen anderen Sender zu suchen. Countrymusik schien er nicht zu mögen und Hip-Hop auch nicht. Julia fragte sich, ob er in seinem Wohnwagen überhaupt die Möglichkeit hatte, Musik zu hören, und welche ihm gefiel.

Normalerweise wäre das eines der unverfänglichsten Themen gewesen, um mit einem fremden Jungen Small Talk zu betreiben. Aber bei Simon war das anders. Sie würde ihn etwas fragen, er würde stottern und verlegen werden. Am Ende würde er wütend auf sie und ihre Fragen sein. Also hielt sie lieber den Mund.

An der Abfahrt zum Highway stiegen sie aus und entschieden, den ersten Wegweiser auf einer kleinen Verkehrsinsel anzubringen. Dort würde er für jeden, der vom Highway kam, gut sichtbar sein. Über all diese Dinge verständigten sie sich ohne Schwierigkeiten. Julia redete und Simon nickte.

Er öffnete die Heckklappe des Trucks und kippte sie herunter. Bevor Simon das erste Schild von der Ladefläche holte, reichte er Julia kommentarlos ein Paar nagelneue, lederne Arbeitshandschuhe. Sie sah ihn an und entdeckte ein versöhnliches Lächeln in seinen schwarzen Augen. Ein schöneres Geschenk als diese Handschuhe hätte er ihr in diesem Moment nicht machen können. Julia schlüpfte mit ihren Händen hinein und es war, als würde sie von nun an ein klein wenig dazugehören. Zur Ranch, zu den Shoshoni, zu diesem Land. Und zu diesem Tag.

Tatsächlich war es gar nicht so einfach, die großen Wegweiser aus Holz an geeigneter Stelle zu befestigen. Sie arbeiteten Seite an Seite. In Simons Kleidung, die mehr Löcher hatte, als Julia zählen konnte, haftete der Geruch von Tieren und frischem Heu.

Hin und wieder fluchte Simon, wenn ihm der Befestigungsdraht aus der Hand glitt oder das Schild wegrutschte. Er tat es inbrünstig, wenn auch etwas eintönig. Doch das Fuck kam ihm jedes Mal so mühelos und korrekt über die Lippen, dass Julia sich ein Schmunzeln verkneifen musste.

Auf der Straße zurück nach Eldora Valley hielt Simon in größeren Abständen an, Julia sprang aus dem Wagen und band die bunten Stoffbänder gut sichtbar an die Verkehrsschilder. Auch darüber musste vorher nicht geredet werden. Deshalb entspannte Simon sich zusehends. Er hatte einen Oldiesender gefunden und pfiff leise zu Lady in Black von Uriah Heep mit.

Nachdem Julia ein weiteres Fähnchen an ein Verkehrsschild geknotet hatte, kletterte sie zurück auf den Beifahrersitz. In diesem Moment entdeckte sie die Narbe. Es passierte, als Simon seine grüne Flasche ansetzte, um sie auszutrinken, und den Kopf dabei weit in den Nacken legte. Die hässliche Brandnarbe begann unter seinem rechten Ohr und zog sich seitlich über den Hals in den Nacken. Sein dichtes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, verdeckte sie so perfekt, dass sie Julia bisher nicht aufgefallen war. Sie wollte noch so tun, als hätte sie nichts gesehen, aber es war schon zu spät.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Simon Julias erschrockenen Blick. Sie hatte die Narbe entdeckt. Irgendwann musste es ja passieren. Er war nicht vorbereitet auf das Mitgefühl in ihren Augen, es war ihm unangenehm. Wortlos verschraubte er die Flasche und trat aufs Gaspedal.

Julia fragte nicht und er war ihr dankbar dafür. Allerdings stand die Sache nun zwischen ihnen. Simon konnte die Frage beinahe hören, obwohl Julia nicht einmal die Lippen bewegte. Jeder schwieg von etwas anderem. Sie wollte wissen, woher die Narbe stammte. Und er wollte es ihr nicht erzählen, weil die Antwort nur weitere Fragen nach sich ziehen würde.

Endlich kamen sie an die Abzweigung zur Goldmine. Julia entdeckte den künstlichen Berg, die riesige Abraumhalde, die sich wie ein monströser Fremdkörper gegen den blauen Himmel abzeichnete. Ihre Aufmerksamkeit verlagerte sich nach draußen und Simon konnte wieder atmen.

»Ist das die Goldmine?«

»Ja.«

»Die Halde ist ja riesig. Wie lange gibt es die Mine denn schon?«

Nun hatte Julia doch zu fragen begonnen, aber das störte Simon nicht. Es war allemal einfacher über eine Sache zu reden, über die er Bescheid wusste, als über sich selbst und seine Gefühle.

Er erzählte ihr, dass Nevada der größte Goldproduzent der USA war. Dass die Columbus-Goldmine seit fast vierzig Jahren vom weltgrößten Bergbau-Multikonzern Kennecott betrieben wurde. Dass für zwanzig Gramm Feingold zwanzig Tonnen Gestein aus dem Berg gesprengt werden mussten und dass das Gold mithilfe von hochgiftigem Zyanid gefördert wurde.

»Warum benutzen die denn Chemikalien?«, fragte Julia.

Simon beschrieb ihr, was jedes Kind hier in der Gegend wusste: dass man das goldhaltige Gestein mit Maschinen zerkleinerte und danach zu einer Halde aufschüttete, die am Boden durch eine Plastikplane abgedichtet war. Eine Sprinkleranlage berieselte die Halde mit Zyanidlauge, die das Gold herauslöste. Das Gewicht der Gesteinsbrocken war häufig zu schwer für die Plane, machte sie durchlässig und giftige Zyanidlauge sickerte in den Boden.

»Zyanid g-gehört zu den am schnellsten wirkenden Giften. Ein T-T-Teelöffel voll kann einen erwachsenen Mann töten.«

Simon hatte Ada einmal gefragt, was aus dem giftigen Zyanid anschließend werden würde.

»Sie behaupten, es verschwindet«, hatte die alte Frau verbittert geantwortet. »Sie sagen, es verschwindet in der Luft und du siehst es nie wieder.«

Inzwischen wusste er, was wirklich damit passierte. Auf dem Gelände der Goldmine gab es Rückhaltebecken für die giftigen Flüssigabfälle. Deren glänzende Oberfläche lockte jedes Jahr Zugvögel an, die ihre Flugstrecke über das trockene Land wegen der vermeintlichen Seen änderten und jämmerlich darin umkamen.

Aber das war noch nicht alles. Um die Tagebaugrube trocken zu halten, deren Krater mehrere Hundert Meter unter den Wasserspiegel reichten, wurden täglich Millionen Liter Wasser abgepumpt. Die Folge war, dass Quellen und Bäche in der Umgebung der Goldmine austrockneten. Und das, wo Wasser in dieser Gegend wertvoller war als Gold.

»F-ür uns Western Shoshone ist das Wasser heilig«, erklärte Simon Julia. »Es ist die Quelle allen Lebens. Mit der Mine vergiften sie u-unser Land und unser Wasser. Sie vergiften uns. Es ist schmutziges GG-G... Fuck.« Er schluckte grimmig. »Also, es ist schmutziges Gold, was aus der Mine geholt wird.«

»Ich mag Gold sowieso nicht«, sagte Julia mit rauer Stimme

Plötzlich war sie es, die verschlossen wirkte und Simon fragte sich, ob er vielleicht etwas Falsches gesagt hatte, weil sie so wütend aussah.

Warum hat er es mir nicht erzählt?, dachte Julia. Warum hat Pa immer nur von der Schönheit des Landes gesprochen, von seiner Würde? Was sie sah, war eine hässliche Wunde. Die Menschen hatten dem Land jegliche Würde geraubt.

Sie konnte ihren Blick nicht von der Mine wenden, bis sich der Truck in Serpentinen einen kahlen Berg hinaufarbeitete und die Halde aus ihrem Blickfeld verschwand.

Oben angekommen, öffnete sich vor ihnen ein weites, mit Beifußsträuchern und einzelnen Pinien bewachsenes Hochtal. Im Hintergrund erhob sich ein dunkles Bergmassiv, das Ähnlichkeit mit einem schlafenden Bären hatte. Eine schnurgerade Schotterpiste durchschnitt das Tal in seiner ganzen Länge. Julia atmete auf. Das war das Land, das ihr Vater ihr beschrieben hatte.

An einer Weggabelung parkte Simon und stieg aus. Pepper sprang ihm hinterher. Julia kletterte ebenfalls aus dem Truck. Alles war ganz still, flimmernde Hitze lastete über dem silbergrünen Tal.

Sie folgte Simon, der geradewegs auf einen großen, festgetretenen Platz inmitten der kniehohen Sträucher zustrebte. Aus den Gesäßtaschen seiner Jeans winkten beim Gehen die Finger seiner Arbeitshandschuhe und Pepper schnappte nach ihnen. Simon bückte sich nach einem Stock, schleuderte ihn durch die Luft und Pepper flitzte los, um ihn zurückzuholen.

Neugierig sah Julia sich um. Sie entdeckte eine große Feuerstelle und das bienenkorbartige Weidengerüst einer Schwitzhütte. Das musste der Versammlungsplatz sein. Hier würde die Abschiedszeremonie für ihren Vater stattfinden.

Julia fragte sich, ob er oft hierhergekommen war, an diesen einsamen Ort. John Temoke war ein Jäger und Sammler gewesen, wie seine Vorfahren. Wenn er mit Julia in Deutschland durch die Wälder und Hügel hinter der Stadt gelaufen war, hatte er immer etwas gesammelt. Pilze, Beeren oder Nüsse. Besondere Steine oder Holzstücke.

Julia riss sich aus ihren Gedanken und sah zu Simon hinüber. Er hatte den Spaten vom Truck geholt und schaufelte das Feuerloch frei, in das während der Wintermonate Erde gerutscht war. Dann überprüfte er sämtliche Wege, das Gerüst der Schwitzhütte und andere Stellen, die für das Wochenende von Bedeutung zu sein schienen.

Julia beobachtete, wie er sich ab und zu bückte, einen Stein vom Boden aufhob, ihn versonnen betrachtete und dann behutsam wieder zurücklegte, als wäre er etwas Lebendiges. Einmal schien Simon Gefallen an seinem Fund zu haben, steckte den Stein ein und legte dafür einen anderen, den er aus seiner ausgebeulten Hosentasche nahm, an dieselbe Stelle.

Schließlich holte Simon die Sandwichs, die Würstchen und die Getränke aus der Kühlbox und kam zu Julia herüber, die sich vor der Sonne in den Schatten einer Pinie geflüchtet hatte. Pepper bellte voller Vorfreude.

Julia warf ihren Zopf auf den Rücken und nahm ein Schluck aus der Wasserflasche, um das trockene Gefühl im Mund loszuwerden. Pep-per bekam sein Würstchen. Simon kämpfte mit der Frischhaltefolie, die um sein Sandwich gewickelt war.

»Du sammelst Steine?«, fragte sie ihn.

Er sah sie an und zögerte einen Moment, als könnte er zu viel von sich preisgeben, wenn er ihre Frage beantwortete. Aber dann lehnte er sich zurück, langte in seine Hosentasche und reichte ihr einen weißen Stein, der gesprenkelt war mit dunkelgrauen Punkten.

»Er ist schön.« Julia drehte und wendete ihn in ihrer Hand. Er war warm von Simons Körper und sah genauso aus wie einer der drei Steine, die auf dem Schränkchen neben ihrem Bett lagen. Hatte Simon sie dort hingelegt? Vermutlich. Sie wollte ihn darauf ansprechen, tat es aber dann doch nicht. Schließlich gab sie den Stein zurück.

Simon strich mit dem Daumen über die raue Oberfläche. »Ein gefleckter Stein ist der Traum eines galoppierenden Appaloosa-Hengstes«, sagte er leise.

»Was?« Julia sah ihn stirnrunzelnd an.

»Ach n-ichts.« Er schob den Stein wieder in seine Hosentasche.

Julia trank noch ein paar Schlucke von ihrem Wasser, das angenehm kühl geblieben war. Ihr Blick schweifte über das Tal und blieb an dem hohen dunklen Berg hängen. Sie streckte den Arm aus. »Ist das der Mount Tenabo?«

Simon griff erschrocken nach ihrer Hand und drückte sie nach unten. »Ja, das ist der T-T-Tenabo. Aber du darfst n-icht auf ihn zeigen.«

Sie lachte verunsichert. »Wieso denn nicht?«

»Weil er ein lebendiges Wesen ist und große spirituelle M-acht hat. Er k-k-k . . . also, er könnte böse werden.«

Julia spürte Simons misstrauischen Blick. Sie versuchte, normal auszusehen, um ihn nicht zu beleidigen. »Verstehe.«

»Nein, tust du n-icht. Macht aber nichts. Hauptsache, du zeigst nicht mit d-d-dem Finger auf den Tenabo.«

Sie biss in ihr Sandwich, um nichts erwidern zu müssen. Simon kaute ebenfalls. Eine Weile aßen sie schweigend. Als Simon sein Sandwich verspeist hatte, öffnete er die zweite grüne Flasche. Es zischte und er trank mit geschlossenen Augen.

»Was trinkst du da eigentlich?«, fragte Julia neugierig. »Sieht irgendwie giftig aus.«

Er reichte ihr die Flasche. Sie las das Etikett: Mountain Dew Bergtau. Was Simon da trank, war eine Art koffeinhaltiger Limonade.

»Schmeckt das denn?«

»Probier es aus.«

Julia setzte an und nahm einen Schluck. Im selben Augenblick, als sich der klebrig süße Geschmack auf ihrer Zunge entfaltete, verschluckte sie sich und prustete los. Sie bekam einen Hustenanfall und das Zeug schoss ihr aus Mund und Nase. Pepper, der eine Ladung abbekommen hatte, sprang erschrocken auf und begann zu bellen.

»So schlimm?«, fragte Simon besorgt.

Sie nickte, immer noch hustend und schniefend. »Das ist ja ekelhaft süß. Von wegen Bergtau. Wie kann man so was bloß freiwillig trinken?« Angewidert verzog sie das Gesicht. »Davon bekommt man mit Sicherheit schlechte Zähne.«

»Wirklich?« Simon lachte und zeigte wie zum Trotz eine Reihe strahlend weißer Zähne. »Das ist m-ein Lebenselixier. Ohne b-b-bin ich verloren. Ich würde den ganzen Tag schlafen.«

Es war das erste Mal, dass Julia ihn lachen sah. Und obwohl sie ihn erst so kurze Zeit kannte, ahnte sie, dass dieses Lachen etwas Seltenes war. Als sie spürte, dass Simon verlegen wurde unter ihrem Blick, begann sie Pepper zu kraulen und entschuldigte sich bei dem Hund für die klebrige Dusche. Sie spülte den Geschmack der süßen Limonade mit Wasser herunter und wischte sich mit den Fingern über die Lippen.

»Gibt es in Deutschland kein Mountain Dew?«, fragte Simon.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Dann k-k-könnte ich dort nicht überleben.«

Pepper bettelte kläffend um ein weiteres Würstchen. Aber Simon hatte keines mehr und so ging der Hund auf Wanderschaft. Er streifte zwischen den Sträuchern umher, scharrte in Mauselöchern und scheuchte Kaninchen auf. Die sengende Hitze schien ihm nichts auszumachen.

Die Sonne stand jetzt hoch und es war mörderisch heiß zwischen den Beifußbüschen, sogar im Schatten der Pinie. Julia schwitzte, das Top unter ihrem T-Shirt klebte nass an ihrem Rücken. Sie wünschte, sie hätte Shorts angezogen statt der langen Jeans. Aber wenigstens ihr T-Shirt konnte sie ausziehen. Als sie es über den Kopf streifte, spürte sie Simons Blick für einen Moment auf sich ruhen, bevor er wegsah und seine Flasche erneut ansetzte.

»Schwitzt du gar nicht?«, fragte Julia.

Simon trug über seinem T-Shirt immer noch dieses löchrige karierte Hemd. Als wäre es seine Rüstung, die er um keinen Preis ablegen wollte, weil er jeden Augenblick in eine gefährliche Schlacht verwickelt werden könnte.

»N-N-N . . . Fuck«, fluchte Simon, als er über die Lüge zu stolpern drohte. Er versuchte, sich zu konzentrieren und seine Zunge zu entknoten. »Doch«, gab er schließlich zu.

»Aber . . .?«

Er bedachte sie mit einem kurzen Blick, in dem tiefe Unsicherheit lag. Schließlich zog Simon das Hemd aus und Julia wurde einiges klar: Die Brandnarbe an seinem Hals schien sich über die gesamte Schulter bis fast zum Ellenbogen zu ziehen. Jedenfalls reichte der kurze Ärmel seines T-Shirts nicht aus, um sie zu verdecken. Die narbige Haut war rosafarben, mit wulstigen hellen Linien, die Simons Oberarm mit einem merkwürdigen Muster überzogen.

Julia zwang sich wegzusehen. »Tut mir leid.«

»K-ein Problem«, sagte er. »Ich muss nur aufpassen, dass ich keinen Sonnenbrand bekomme. D-D-Deshalb das Hemd.«

Sie sah ihn wieder an. »Das hat bestimmt furchtbar wehgetan.«

»Ich war k-klein und kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»Wie ist das denn passiert?«

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das eine der Fragen, die sie nicht hätte stellen dürfen. Julia biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte nicht . . .«

Simon holte tief Luft. »Heißes W-asser«, sagte er. »Es war heißes Wasser.«

Julia hätte gerne mehr gewusst. Wie es passiert war und wie alt er war, als es passierte. Wie alt war er jetzt? Tatsächlich erst siebzehn, wie Boyd gesagt hatte? Ohne Hemd sah Simon beinahe schmal aus, hatte aber muskulöse Arme.

Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln, fragte jedoch nicht nach. Allmählich verschwanden die Falten von Simons Stirn und er entspannte sich. Sie saßen im Schatten der Pinie, tranken und schwiegen. Doch es war kein unangenehmes Schweigen.

Eine kleine braune Grille wanderte an Julias Schuh vorbei über den rissigen Boden. Bald kam noch eine und dann noch eine. Als sie wenig später zum Pick-up zurückgingen, war der Schotterweg voller brauner Grillen, die sich alle zielstrebig in eine Richtung bewegten. Julia gab sich Mühe, keine zu zertreten. Simon achtete nicht weiter auf die braunen Insekten.

»Mormon Crickets«, sagte er verächtlich. »Die sind eine P-P-Plage, du brauchst sie nicht zu schonen.«

»Mein Pa hat mir erzählt, unsere Vorfahren hätten sie gegessen.«

Simon verzog angewidert das Gesicht.

Julia lachte. »Geröstet natürlich. Sie sollen vitamin-und fettreich sein.«

»Na, Mahlzeit«, sagte Simon und pfiff so lange nach Pepper, bis der kleine Streuner mit staubiger Nase zwischen den Beifußsträuchern auftauchte.

Simon ließ den Truck an. Er hatte es von Anfang an geahnt, dass Julia ihn ausfragen würde. Aber so furchtbar, wie er geglaubt hatte, war es gar nicht gewesen. Er hatte ihre Fragen beantwortet und sie war damit zufrieden gewesen. Beinahe jedenfalls. Ihm war klar, dass Julia gerne gewusst hätte, wie er zu seiner Narbe gekommen war. Aber sie hatte den Mund gehalten und er war ihr dankbar dafür.

Schweigend fuhren sie ins Tal hinab, zurück zur Goldmine, und Simon stoppte an der Abzweigung zur Straße, damit sie den letzten großen Wegweiser anbringen konnten. Er war aus einer alten, schweren Spanplatte gefertigt. Als sie das Schild am Maschendrahtzaun, der das Minengelände umgab, befestigen wollten, rutschte es ihnen immer wieder weg. Sie hatten nicht mehr genügend Draht, um dem Wegweiser ordentlich Halt zu geben.

Simon blies sich das Haar aus der feuchten Stirn. Um seine Narbe vor der Sonne zu schützen, die unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel brannte, hatte er sein Hemd wieder übergezogen. Seine Hände kochten in den ledernen Arbeitshandschuhen und er streifte sie ab.

Für einen Augenblick sah es so aus, als hätten sie es geschafft, doch mit einem Mal kippte das Schild nach vorn. Der Pfeil zum Versammlungsplatz zeigte nun direkt zum Mittelpunkt der Erde.

»Fuck!« Simon richtete sich auf und wischte sich mit dem Arm den Schweiß aus dem Gesicht. Pepper beschnüffelte das Schild, hob das Bein und pinkelte dagegen.

»Hey, Kumpel, bei dir piept’s wohl?«, schimpfte Simon genervt.

Julia lachte und schüttelte den Kopf.

Plötzlich hörte Simon, wie hinter ihnen ein Wagen hielt, und drehte sich um. Es war ein silberfarbenes, aufgemotztes Auto mit Leichtmetallfelgen und Doppelauspuff. Zwei feuerrote Streifen führten über Motorhaube und Kofferraum. Jason Temokes protziger Zweisitzer.

Auch das noch!, dachte Simon.

Julias Halbbruder stieg aus. Auf dem Kopf trug er ein schwarz-weißes Bandana und eine dunkle Sonnenbrille verbarg seine Augen. Die Ärmel seines blütenweißen T-Shirts hatte er nach oben gekrempelt. Ein blauer Adler breitete seine Schwingen über den rechten Bizeps.

»Na, Schwierigkeiten?« Jason grinste breit.

Simon war auf der Hut, was Jason Temoke betraf. Es war kein Geheimnis in Eldora Valley, dass Jason Drogen nahm und zu Überheblichkeit und Aggressivität neigte. Aus unerfindlichen Gründen schien er Simon als Eindringling auf der Ranch zu betrachten und war ihm von Anfang an mit unverhohlenem Misstrauen begegnet.

»Habt ihr beiden die Sprache verloren oder was ist los?«

Simon wollte etwas sagen, seine Gesichtsmuskeln zuckten, aber seine Stimme war auf einmal völlig blockiert. Hilflos stand er da und wartete. Wartete auf Erlösung.

»Wir kriegen das schon hin«, sagte Julia.

Jason musterte sie hinter den dunklen Gläsern seiner verspiegelten Sonnenbrille. Es war Simon unangenehm, dass er die Augen des anderen nicht sehen konnte, die mit Sicherheit Julias Körper unverfroren taxierten. Unter dem engen Top zeichneten sich deutlich ihre runden Brüste ab.

»Hey«, sagte Jason, »mein Schwesterherz aus Germany ist eine hübsche kleine Lady. Und sie hat sich bereits mit dem Stotterheini angefreundet. Das ging ja fix.«

Simon zuckte zusammen wie ein getroffenes Tier und spürte, wie seine Muskeln sich noch mehr verkrampften. Er stand da und versuchte, gelassen zu bleiben. Die Beleidigungen war er gewohnt. Es war das Mitleid, das er viel mehr hasste. Aber da war kein Mitleid in Julias Augen, nur nüchterne Überlegung. Jasons Sticheleien schie

nen sie kaum zu beeindrucken.

»Ein Stück Draht oder Strick würde uns weiterhelfen«, sagte sie.

Jason lief zu seinem Auto, wühlte im Kofferraum und brachte eine kleine Rolle festen Draht zum Vorschein. Er schob Julia zur Seite.

»Lass mal deinen großen Bruder ran, okay?«

Mit wenigen geschickten Handgriffen befestigte er das Schild am Zaun, erhob sich und grinste zufrieden.

»Danke.« Julia stemmte die Hände in die Hüften und schenkte Ja-son ein Lächeln.

»Nichts zu danken, Schwesterherz. Es war nett, dich endlich kennenzulernen. Und v-v-viel Spaß n-n-noch mit dem Stotterheini.«

Jason stieg wieder in seinen silbernen Flitzer, ließ den Motor aufheulen und brauste davon.

»B-B-Blödmann«, sagte Simon wütend. Jason hatte ihn vor Julia gedemütigt und das würde er ihm nicht so schnell verzeihen.

Julia sah ihn an und er merkte, wie sie darum kämpfte, ein Lachen zu unterdrücken. Doch es gelang ihr nicht. Sie prustete los.

Einen Augenblick lang betrachtete Simon sie mit finsterer Miene, dann musste auch er lachen. Nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag.

Die verborgene Seite des Mondes
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